2024:

Die Corona-Jahre waren für alle eine grosse Herausforderung. Für mich sogar eine Krisenzeit. Ich verbrachte die Tage im geschlossenen Cafè eines kleinen literarischen Theaters in meinem Viertel. Ein Theater in einem stillen Innenhof, von allen Seiten unsichtbar, eine verborgene sichere und ruhige Oase in einem sonst unruhigen und geschwätzigen Ausgeh-Viertel. Mit der Zeitung unterm Arm betrat ich morgens den Raum, schaltete meine kleine Kaffeemaschine ein und ebenfalls mein kleines Radiogerät. Es sollte ein wenig Normalität vortäuschen, denn seit Jahrzehnten tue ich täglich dasselbe: Ich gehe ins Cafè Zeitung lesen.

Manchmal war es ganze Tage ruhig, manchmal hörte ich die Schritte des Theater-Teams ein Stock über mir, manchmal, aus dem Saal, die Stimmen der für bessere Zeiten probenden Schauspieler. Ein labiles Gleichgewicht. Dass ich die Krise in Griff hatte und schliesslich überwand, verdanke ich diesem Ort und zweier Entscheidungen.

Ich begann dort am Roman "Der Feuerturm" zu arbeiten. Und ich entdeckte die lösungsorientierte, systemische Therapie und entschied, wieder in meinen alten Beruf einzusteigen. Beides waren Rettungsanker/Lebensanker.

Seit nun 2021 arbeite ich mit Freude als Psychologe in einer psychotherapeutischen Praxis. Und 2022 ist "Der Feuerturm" erschienen.

Wunderzeit

Catalin Dorian Florescu

Wunderzeit

2001

Taschenbuch DTV

Schnörkellos erzählt

Ein erzählerisches Naturtalent ist Cata­lin Dorian Florescu genannt worden, und das zu recht: denn seine anrührende, le­bendig und schnörkellos erzählte Jugend­geschichte kommt so gut wie ohne Kunst­griffe aus. Zu Beginn des Romans sitzt der fünfzehnjährige Alin mit seinen Eltern an der rumänisch‑jugoslawischen Grenze fest. Vor wenigen Minuten ist sein Vater in der gelben Zollbaracke verschwunden; Mutter und Sohn warten im Auto fast reg­los auf seine Rückkehr. Endlos dehnen sich diese Minuten ‑ Zeit genug, einen gan­zen Roman zu erzählen.

Die Wunderzeit, von der das Buch erzählt, begann fünf Jahre zuvor, als die örtlichen Behörden den Jungen in Be­gleitung seines Vater zur medizinischen Behandlung nach Italien reisen ließen. Ausschlaggebend waren dabei die guten Beziehungen des Vaters: Als Hausverwal­ter hat er der Miliz täglich Informationen über alle Mieter zu liefern, Zwar bemüht er sich nach Kräften, niemandem zu scha­den ‑ aber als Dissident wird er im Westen wohl kaum durchgehen, obwohl er das, auf seine vorsichtige Weise, vielleicht sogar ist. Sein unfreies Land liebt er jedenfalls nicht, im Gegenteil. Er und seine Frau wol­len mit Alin unbedingt ausreisen ‑ und das nicht nur wegen der Muskelkrankheit des Jungen, die im Westen möglicherweise geheilt werden kann.


So steht alles, was aus der freien Welt kommt, bei ihnen hoch im Kurs, und ihr Sohn wächst mit den italienischen und französischen Filmen der sechziger Jahre auf. Vor allem Fellinis La dolce vita hat ihn beeindruckt: Die Souveränität der Männer, die erotische Ausstrahlung des Frauen und ihr ungebundenes Leben scheinen ihm das größtmögliche Glück zu verheißen. An diesem Vorbild wird er all seine Erfahrungen im Westen messen, al­lerdings auf eine sehr Fellinische, gewitzt­pragmatische Weise.

Catalin Dorian Florescu wurde 1967 in Temesvar geboren, und die Eckdaten sei­ner Biografie entsprechen weitgehend je­nen seines jugendlichen Erzählers: 1976 erste Ausreise mit dem Vater nach Italien und nach Amerika; Rückkehr nach Rumä­nien, 1982 endgültige Emigration. Seine spannende Schilderung eines Teenagers, der, während er in die Erwachsenenwelt hi­neinzuwachsen beginnt, aus seiner Heimat­welt herausfällt, könnte man ein Jugend­buch im besten, klassischen Sinne nennen. Konsequent aus der Sicht des Jungen, von seinem Erfahrungs‑ und Wissenshinter­grund aus erzählt, entfaltet sich unspekta­kulär und realistisch eine Geschichte der Selbst‑ und Bewusstwerdung, die sich vor allem an Details und kleinen Gesten orien­tiert, und deshalb äußerst glaubwürdig ist.

So erzählt Alin zunächst von seinem nor­malen Alltag in einer rumänischen Kleinstadt: von erotisch aufgeladenen Ba­deausflügen; von der hübschen Geschichts­lehrerin, bei der er, um einen guten Ein­druck zu machen, Ceaucescus Heldenta­ten« referiert; und vom Nationalfeiertag, den er liebte wegen des Bratenduftes und des im Fernsehen übertragenen Festumzu­ges, in dem er ganz vorne mitmarschierte, um den Mädchen zu imponieren.

Aber natürlich liebt er Rom vom ersten Moment an; ist es doch seine Stadt der Lie­be aus La dolce vita. Die neue, aufregende Körperlichkeit der Frauen und Mädchen beschäftigt ihn Tag und Nacht; und in der Sprache fühlt er sich sofort zu Hause: Er lernt sie so schnell, dass er bald die Stim­me des Vaters wird. So bringt er sprach­lich seine zwei größten Helden zusammen, denn der Vater sieht ein bisschen wie Mar­cello Mastroianni aus.

Catalin Dorian Florescu unterlegt hier sehr geschickt die Realität mit Filmbil­dern und lässt so in Alins Kopf eine neue Wirklichkeit entstehen, die mehr Farbe und Intensität als die tatsächliche, und mehr Geruch und Wärme als die filmische besitzt. So sieht der Erzähler natürlich die berühmte, Anita‑Ekberg‑Szene vor sich als er mit seiner Freundin Anna am Rande der Fontana di Trevi sitzt; aber Annas zierliche, sich im Wasser neckisch bewegenden Füße werden erst vor diesem Hintergrund wirklich aufregend.

Bei all dem lässt der Autor seinen Helden aber soweit realistisch bleiben, das er in der Fremde den einzig erfolgversprechenden Weg einschlägt, seine Umwelt mit den Mitteln des Individuums zu erobern: mit genauer Beobachtung, Gefühl und Sprache. So hatte er sich schon Hause gegen die Zugriffe des Staates gewehrt, so verweigert er sich jetzt falschen Vereinnahmungen aller Art. Dabei machen ihn seine an Fellini geschulte, emotionale Unbestechlichkeit klarsichtig und aufmerksam für falsche Töne. Und der aus dem fremden Alltag oft ergebende Widerstreit der inneren Stimmen wird Ansatzpunkt, um über das, was er verlassen hat, neu nachzudenken. Auf der zweiten Station ihrer Reise landen Vater und Sohn in New York bei einer verelendeten rumänischen Auswandererfamilie in der Bronx, und die Erfahrungen dort sind so niederschmetternd, beide nach Hause zurück wollen, auch auf die Gefahr hin, nie wieder reisen zu dürfen. Aber sie schaffen es: Vier Jahre später sitzt die ganze Familie mit Reisepässen an der Grenze und Alin beginnt zu ahnen welche Rolle die Politik in ihrem Leben spielt. Ob sie Vater jetzt wohl foltern überlegt er angstvoll im Auto. Aber darauf dürfen sie passieren, und das Letzte was sie von ihrem Land hören, ist der Lautsprechersatz des Obergenossen: Wir werden alles tun, um uns von Kapitalismus und Imperialismus zu befreien.

„Jawohl, wir werden alles tun!" rufen die drei Reisenden und brechen in hemmungsloses Lachen aus. 

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